Stephan Berg:
Zwischen den Bildern.
In gewisser Weise sind die engen Bezüge zwischen Fotografie und Malerei, die spätestens seit den 1990er-Jahren den Diskurs beider Medien wesentlich mitbestimmen, nichts anderes als ein Komplementärkontrast zu ihrer jahrzehntelangen intensiven Gegnerschaft. Geändert hat sich seit der ersten Fotografie, die Joseph Nicéphore Niépce im Jahre 1826 im Heliografie-Verfahren gelang, vor allem die Bewertung des fotografischen Bildes. Sobald einmal erkannt war, dass Fotografie mitnichten – wie die Malerei gerne unterstellte – eine rein mechanische und damit notwendig kunstlose Reproduktion des Wirklichen betrieb, war der Weg frei für die spannendere Frage, zu welchen wahrnehmungstheoretisch relevanten Ergebnissen die von beiden Disziplinen – wenn auch auf verschiedenen Wegen – betriebene Erfindung der Realität führt. Anders gesagt: Glauben wir dem gemalten Bild deswegen mehr oder gerade weniger, weil sein Verhältnis zur Realität von vornherein bestimmt ist durch die subjektiven Setzungen des Pinsels, wodurch jede Malerei zunächst einmal eine eigene Wirklichkeit bildet, bevor sie etwas anderes abbildet? Oder sorgt die – jedenfalls im analogen Zeitalter – stets gegebene direkte Verknüpfung des fotografischen Abbildes mit seinem Vorbild dafür, dass wir die dadurch entstehende Kluft zwischen abbildender Objektivität und erfindender Subjektivität als produktiver beziehungsweise zeitgemäßer empfinden?
Marc Lüders operiert mit seinen »Photopicturen« genau im Zentrum der Verwerfungs- und Verbindungslinien zwischen malerischem und fotografischem Diskurs. Dabei verfolgt sein Werk zwei Hauptstränge: Zum einen die systematische Verknüpfung zwischen fotografischem und gemaltem Motiv. Zum anderen die Konfrontation zwischen Malgeste und Fotografie. Zu der ersten Gruppe gehören vor allem die Schwarz-Weiß-Aufnahmen und Farbfotografien von Räumen und suburbanen Peripherien, in die Lüders merkwürdig linkisch oder abwesend wirkende, gemalte Personen integriert. Die gemalten Personen gehen dabei auf digitale Aufnahmen zurück, die Lüders etwa von Wartenden an Fußgängerampeln macht, um sie dann nach mehreren Bearbeitungsschritten auf das Foto zu projizieren und in Malerei zu übertragen. Die dialektische Verknüpfung zwischen Foto und Malerei funktioniert dabei deswegen so gut, weil Lüders die Situationen für seine Fotomotive stets schon im Hinblick auf die zu integrierenden Personen auswählt. Gleichzeitig sorgt die Kombination aus gesichtslosen Unorten und disloziertem Personal für eine deutliche Melancholie. Im trostlosen Nirgendwo von Neubausiedlungen, schäbigen Fluren und Badezimmern wirken die Subjekte wie schlafwandelnde Traumtänzer – ebenso ihrer selbst wie ihrer Umgebung entfremdet. Eine ähnliche Form der Destabilisierung findet auf der Ebene der beiden verwendeten Medien statt. Die realistischen, aber doch eindeutig gemalten Personen sorgen für eine gewisse Surrealisierung des fotografischen Umfeldes, während andererseits der fotografische Kontext die malerische Behauptung ein Stück weit dementiert und zersetzt.
Eine noch engere Verschränkung der beiden Disziplinen formuliert Lüders in einer Reihe von schwarz-weißen Landschaftsaufnahmen, die seit Ende der 1990er-Jahre entstehen. In Arbeiten wie Waldgrün (2001) oder Serpentaragrün (2002) übermalt Lüders die Naturaufnahmen zunächst komplett monochrom grün, um dann in einem zweiten Schritt die Farbe wieder leicht abzutragen, bis eine prekäre Balance aus zugrundeliegender fotografischer Schwarz-Weiß-Darstellung des Waldes und seiner farbmalerischen Naturalisierung erreicht ist. Interessanterweise wirkt das Foto durch den abstrakt-gestischen Farbauftrag so erst richtig realistisch. Der nicht abbildenden Charakter der Malerei verstärkt den Wahrheitscharakter der fotografischen Abbildung und sorgt doch gleichermaßen für das Gegenteil, da die Übermalung das Foto faktisch durchstreicht. Im Ergebnis generieren Foto und Malerei also gemeinsam eine höhere Realitätsdichte, indem sie sich gegenseitig sowohl verstärken auch infrage stellen. Das liegt unter anderem daran, dass Lüders – anders als Bertrand Lavier, der reale Gegenstände, angefangen bei Spiegeln über Kühlschränke bis hin zu ganzen Autos, komplett in ihren jeweiligen Lokalfarben bemalte – nicht die Realität in ein Zeichen ihrer selbst verwandelt, sondern eine selbst schon zeichenhafte Realitätsstufe durch die Kreuzung mit einer weiteren Bezeichnung noch tiefer in den auswegslosen Strudel zwischen Signifikat und Signifikant überführt.
Seinen stärksten, in gewisser Weise unheimlichsten Ausdruck findet dieses Werk in einer groß angelegten, bereits 1994 begonnenen Serie, in der Lüders mit der Kontrastierung von Fotografie und Malerei operiert. Wie Aliens schweben dort merkwürdige, längliche schwarz-weiße Malwesen in Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Badezimmern, Kirchenaltären, Bodenbelägen oder Museumsräumen. Einerseits sind diese Formen nichts anderes als kompakt verdichtete gestische Pinselstriche. Andererseits stattet Lüders sie mit einem plastischen Volumen aus, das die vermeintliche Abstraktion des reinen Pinselstrichs erheblich infrage stellt. Zumal diese rätselhaften, oft an Gurken erinnernden Formlinge perfiderweise auch noch einen Schatten werfen, sich also ein Selbstbewusstsein anmaßen, das allenfalls reale Gegenstände, nicht aber die Malerei, für sich beanspruchen können. Wie geisterhafte Phantomwesen irritieren sie und kommentieren das Bildgeschehen der Fotografien, nicht ohne eine gehörige Portion Ironie. Dies gilt insbesondere für die Raumaufnahme Objekt 215-4 aus der Hamburger Galerie der Gegenwart mit einem frühen, nach einer Fotografie entstandenen Schwarz-Weiß-Gemälde Gerhard Richters, in die Lüders eine scheinbar unscharf wirkende, verwischte Malform hineinschmuggelte. Hier befinden wir uns wirklich in einem perfekten, ausweglosen Bildzirkel: Das Foto zeigt ein Gemälde, das sich auf ein Foto bezieht, das eben diese Unschärfe aufweist, die Lüders seinem plastischen Pinselstrich mitgibt. Und das strukturelle Misstrauen gegenüber der Möglichkeit, die Wirklichkeit im Bild zu repräsentieren, das Richters Werk spätestens seit seinen schwarz-weißen Fotomalereien beherrscht, ist gleichzeitig die Matrix für die »Photopicturen« von Marc Lüders. Auf ihnen sehen wir, wie uns die Wirklichkeit im Bild immer wieder entgleitet und durch die wechselseitigen Ansprüche der Medien Fotografie und Malerei kontaminiert wird: Wenn beispielsweise eine dieser Fotografien tatsächlich nichts als einen Ausschnitt eines einfachen, leicht schäbigen Badezimmers darstellen soll, dann dürfte sich dort eben nicht ein schwarz-weißer, Schatten werfender Farbkörper in Kniehöhe breitmachen, der seinerseits ebenso selbstverständlich auf seinem repräsentativen Recht beharrt, wie dies sein fotografischer Umraum tut.
Das produktive Paradox dieser Arbeiten liegt demnach darin, dass sie zeigen, wie ähnlich sich scheinbare Abstraktion und scheinbare Gegenständlichkeit tatsächlich sind, wenn man sie auf einer Bildebene zusammenbringt. Denn auf diesen Fotos lädt sich der gestische Selbstausdruck des Pinsels ebenso mit einer narrativ-gegenständlichen Energie auf, wie er andererseits die Realitätshaltigkeit des Fotos unterminiert. In ihrem Kern sind diese Arbeiten der Beweis dafür, dass die Wirklichkeit im Bild tatsächlich in ihrer Bildwirklichkeit besteht.
Stephan Berg, 2010
Quelle: Marc Lüders. Erfindung der Realität. Hatje Cantz, Ostfildern, 2010, page 76-78