Luminita Sabau:
Marc Lüders und der neue Surrelismus.
“Die Kunst ist vielleicht die sichtbarste Wiederkehr des unterdrückten Bewusstseins.”
Sigmund Freud
Die Pop-Art war wahrscheinlich die letzte große Kunstbewegung des 20. Jahrhunderts. Mit den 1970er-Jahren wurden die Ismen totgesagt, das Ende der Avantgarde ausgerufen, und die Kunst war letztlich nur noch an die Kraft der einzelnen künstlerischen Stimme gebunden. Das gesellschaftliche Signum der postmodernen Epoche brachte der französische Philosoph Paul Virilio knapp und zutreffend auf die Formel vom »großen visuellen Rauschen«.
Dreißig Jahre später wurden wieder Kunstbewegungen und Stile proklamiert, ob sie Neue Deutsche Malerei, Leipziger Schule oder Hyperrealisten hießen. Im Alltag trug der virtuelle Anteil unserer Gegenwart dazu bei, dass jeder einzelne von uns in sich demiurgische Potenzen entdeckte. Per Knopfdruck können wir zu Akteuren in virtuellen Welten werden, in denen alles möglich ist. Frei nach André Breton können nun das Unwirkliche und Traumhafte sowie die Tiefen des Unbewussten als Elemente eines von uns gesteuerten Spiels ausgelotet werden, um die realen und notwendig begrenzten Erfahrungen zu erweitern und neue virtuelle Räume zu erschaffen. Dass Künstler dabei immer auch die Vorreiter sind, versteht sich von selbst. Sie haben uns schon immer mit Welten konfrontiert, die einerseits Spiegel unseres Selbst und andererseits Vorahnungen der Zukunft sind. Der große Joseph Beuys sprach explizit vom Künstler als Seismografen. So entstand noch lange nach dem Ende der surrealistischen Bewegung eine nicht zu übersehende Anzahl von Positionen in der Literatur (von Paul Celan über Isaac Asimov und Ray Bradbury bis hin zu Oskar Pastior), im Film (von Federico Fellini über David Lynch und David Cronenberg bis Terry Gilliam oder Paul Thomas Anderson) und in der bildenden Kunst (von den Mitgliedern der Cobra-Gruppe bis zu Künstlern wie Matthew Barney oder Peter Doig), für die es galt, das Potenzial des Fantastischen und die spezifischen Energien des Unbewussten zu erkunden. Auch das Genre der Science-Fiction kann natürlich als Ausdruck einer surrealistischen Haltung verstanden werden.
Die Bildwelten von Marc Lüders sind vielleicht eine solche Vorahnung. Wir begegnen darin immer wieder irrealen Gestalten, die sich innerhalb einer profanen, fotorealistisch dargestellten Umgebung bewegen. Diese fotografische Welt erkennen wir sofort. Die gemalten Gegenstände oder menschenähnlichen Figuren, die diese Welt bevölkern, bleiben uns allerdings fremd. Und auch sie selbst haben anscheinend (noch) keine richtige Beziehung zu ihrer Umgebung geschaffen. Sie nehmen zwar scheinbar vertraute Posen im Schuhgeschäft, im Bad, am Strand oder im Supermarkt ein, wo sie allerdings der Schwerkraft enthoben scheinen, denn mitunter stehen sie vor auf dem Kopf stehenden Regalen – wie »Strangers in a Strange Land«; so der gleichnamige Klassiker der Science-Fiction-Literatur von Robert A. Heinlein. Es sind ungewöhnliche und rätselhafte Zusammenstellungen von vertrauten und frei erfundenen Gegenständen, die zu Handlungsträgern einer neuen (beziehungsweise vormals unbewussten) Welt werden, die auch durch die vielfache Wiederholung nichts von ihrer Spannung einbüßen. Die durch des Malers Hand sichtbar gewordenen Gestalten und die seltsamen surrealen Objekte, die durch die Landschaft fliegen, wirken – außer im formalen Sinn von Vorderund Hintergrund – beziehungslos. Wir haben es offensichtlich mit jenen »zufälligen Begegnungen« auf einem Sezieroder eben bei Lüders einem OP-Tisch zu tun oder werden zu Zeugen längst vergessener Séancen. Selbst dann, wenn Mensch und gemalte Gestalt aufeinander zugehen, ist diese Begegnung unwirklich. So werden Assoziationen mit Iwan Jefremows Andromedanebel wach, und Bretons Moment des »dépaysement« (der »Entheimatung«) wird wieder gegenwärtig. Die Dinge und Menschen werden dekontextualisiert, an fremde Orte platziert – »displaced«. Dadurch offenbart sich uns eine im doppelten Wortsinn verrückte Realität, die auf ihre Quellen im Unterbewussten und Traumhaften schließen lässt.
So wichtig das Spannungsverhältnis zwischen Fotografie und Malerei für die Kunst der letzten dreißig Jahre und auch für das Werk von Marc Lüders ist, so würde es seiner Ästhetik doch nicht gerecht, die Arbeiten auf dieses Verhältnis zu reduzieren. Denn wie auch mit dem Begriff der »Photopicturen«, den Lüders selbst gerne verwendet, sind damit lediglich technische Aspekte angesprochen. Wichtiger jedoch scheinen mir bei diesem einmaligen Werk nicht nur die formal überzeugenden Ergebnisse zu sein, die eine absolute Beherrschung der Medien Malerei und Fotografie bezeugen, sondern dass der Traum und das Unterbewusste wieder ins rechte Licht gerückt werden. Oder wie Freud sagte, »dass das Unbewusste viel moralischer ist, als das Bewusste wahrhaben will«.
Der psychische Automatismus und eine bewusste Kombinatorik gelten als ursprünglich surrealistische Methode. In seiner gestisch ausgeführten Malerei lebt bei Lüders ein ausgeprägt psychografisches Element auf, zwar das in Kombination mit dem fotografischen Medium, das seine Glaubwürdigkeit zu keinem geringen Teil aus seiner automatischen Genese bezieht. Surrealistisch an Lüders’ Kunst ist vor allem das Thematische, nämlich das problematisch gewordene Verhältnis von Mensch und Ding: Es geht um beseelte Dinge, die ein Eigenleben führen, sowie um Sehen und Sichtbarkeit durch Ineinander-Blendung verschiedener Realitäts- oder Illusionsebenen. Schon die Surrealisten waren begeistert von Jean-Martin Charcots Fotografien von Hysterikerinnen aus dem späten 19. Jahrhundert und den Fotografien von mediumistischer »Materialisationsphänomenen« aus den 1910er-Jahren. Auch Thomas Mann nahm wiederholt an Séancen teil und hielt seine Wahrnehmungen dazu fest. So gesehen erscheinen Lüders’ farbige Figuren wie Flaneure in den Arkaden von Paris – nur im fotorealistischen Register etwa eines Richard Estes – und seine schwarz-weißen Figuren wie Chimären und Geisterwesen, ja wie (unsere) Ahnen. Und in diesem Zusammenhang lassen sich auch seine menschenleeren Tankstellen – à la Edward Hopper und popfarbig – als Friedhöfe lesen. Die schwebenden Objekte haben etwas von UFOs, aber eben auch vom sogenannten »Ektoplasma« jener Fotos zu Beginn der Moderne, die zeigen, wie aus den Mündern der dargestellten Medien körperfremde Materie austritt, dass also die menschliche Stimme der angerufenen Person gleichsam materialisiert »erscheint«. Diese Objekte, die Figuren immer ähnlicher zu werden scheinen, sind in der Tat phänomenale Erscheinungen.
Mit seiner Faszination für die Vielfalt der Transformations- und Überarbeitungsmöglichkeiten ist Marc Lüders in guter Gesellschaft. Schon der Fotograf Man Ray war zugleich Maler und »Objektschaffer« und machte sich die Experimentiermöglichkeiten in der Dunkelkammer wie Solarisation oder absichtlich erzeugte Körnigkeit zunutze. Schon Brassaï schuf Fotos, als seien sie nach der Ecriture automatique entstanden. Schon Buster Keaton führte in hoch poetischer Form vor Augen, dass die Dinge immer schon stärker waren als wir selbst. Und in jüngerer Zeit ließen uns beispielsweise Anna und Bernhard Blume parapsychologisch freigesetzte Fliehkräfte um die Ohren fliegen. Geister, Schatten und Schwebendes erscheinen uns unheimlich, anders gesagt, als das energetische Potenzial des Psychischen. Hier liegt das genuin surrealistische Interesse. Und es ist tatsächlich verblüffend, wie zentrale formale und motivische Elemente im Werk von Marc Lüders dem entsprechen. Wie bei Yves Tanguy schaffen bei ihm Schatten als Zeichen innerer Bewegtheit Räume, die eigentlich nicht vorhanden sind. Das Schweben der Dinge erinnert an die schwebenden (schwerelosen) Dinge in den Gemälden von Max Ernst, und Lüders’ städtischer Raum ist vergleichbar mit dem bei Paul Delvaux – der Raum ist irreal, er dient als Kulisse für Begegnungen ohne erkennbaren Sinn und Zusammenhang, dessen verschlüsselter Sinn sich aber demjenigen erschließt, der die Sprache des Unterbewusstseins versteht und die Intensität des Augenblicks wahrnimmt.
Luminita Sabau, 2010
Quelle: Marc Lüders. Erfindung der Realität. Hatje Cantz, Ostfildern, 2010, page 111-113